Alexander R. Lurija - Biographie

1. Lurija in Kasan - Leben vor dem Hintergrund gesellschaftspolitischer Umstände

Alexandr Romanovic Lurija wurde am 16. Juli 1902 in der Universitätsstadt Kasan geboren. Kasan liegt im Südosten des heutigen Russlands und ca.1000 Kilometer südöstlich von Moskau an der Wolga. Zu dieser Zeit war Kasan, das damals ca.140 000 Einwohner zählte, zum wissenschaftlichen Zentrum im Südosten Russlands geworden.

Wladimir M. Bechterew, ein russischer Psychiater und Neuropathologe, dem - wie sich zeigen wird - auch Lurija begegnen wird, hatte hier 1885/86 das erste psychologische Laboratorium, das „Psychophysiologische Laboratorium der Kaiserlichen Universität Kasan", gegründet (VELICKOVSKIJ/MÉTRAUX 1986).

Dort untersuchte er ungefähr zu der Zeit, als A. R. Lurija in Kasan aufwuchs, schon viele der Probleme, welche - so schreibt COLE (1979a) - die sog. neue wissenschaftliche Psychologie später zu ihren zentralen Themen machen würde: So z.B. Forschungsgegenstände wie Lernmechanismen, Alkoholismus und Psychopathologie.

Lurija ist ein sehr alter Familienname, mit dem man im 16. und 17. Jahrhundert jüdische Gelehrte in Verbindung brachte. Nach NEUMÄRKER/BZUFKA (1987) ist der Name Lurija bis ins Jahr 1534 auf den Kabbalisten Isak Lurija zurückführen, der in diesem Jahr in Jerusalem geboren wurde. Auch Alexandr Romanovic stammte aus einer traditionsreichen jüdischen Familie, die sich zur „Bourgeoisie" zählte. Vorfahren dieser Familien waren aus dem sogenannten Schtetl - Judentum in höhere Gesellschaftsschichten aufgestiegen. Vor diesem Hintergrund taten Familien wie die Lurijas alles, um den erreichten sozio-ökonomischen Status wahren zu können (MÉTRAUX 1994). Lurija bezeichnete seine Familie in diesem Zusammenhang als zur russischen „Intelligenzija" gehörig: „Wir hielten uns für progressiv und hatten keine religiösen Bindungen" (LURIJA 1993, 23).

Doch durch die damals herrschende zaristische Regierung waren Russen jüdischen Glaubens vielerlei Restriktionen ausgesetzt, unter denen auch die Familie Lurija zu leiden hatte.

1.1 Exkurs: Leben in Russland vor der Oktoberrevolution

Das bis 1917 noch vorherrschende Zarentum versuchte, das russische Volk diktatorisch zu regieren. Es gab eine strenge Kontrolle auf alles, was nicht konform mit der zaristischen Regierung ging.

Dies hatte beispielsweise auf die russische Psychologie, die hier explizit erwähnt wird, die Auswirkung, dass diese nur unter schwerer Zensur arbeiten konnte und strengen konservativ religiösen Prinzipien und autoritären politischen Verfahrensweisen unterworfen war (COLE 1979a). Konkret bedeutete dies, dass nur diejenige (aus- und inländische) Literatur zur Verfügung stand, die der Zensur des Zaren standgehalten hatte. Folglich konnte auch die wissenschaftliche Forschung nicht in der Art vorangetrieben werden, wie dies in Deutschland mit der Würzburger Schule und Wilhelm Wundt oder in Amerika der Fall war. So war die Psychologie um 1910 in Kasan auf dem gleichen Stand wie sie dies eine Generation früher in Leipzig oder Würzburg gewesen war.

Da Lurijas Familie dem jüdischen Glauben angehörte, soll auch kurz auf die Situation der Juden in dieser Zeit eingegangen werden, um im weiteren die Bedeutung, welche die Revolution 1917 für Lurija und seine Familie hatte, verständlich machen zu können.

COLE (1979a) zufolge mussten im Russland jener Zeit Juden ein äußerst benachteiligtes Leben führen, das streng von der zaristischen Regierung überwacht wurde. Sowohl die Möglichkeit zu Reisen, als auch Ausbildung und Arbeit waren sehr eingeschränkt. Die Härte, mit der diese Restriktionen allerdings ausgeführt wurden, hing vom jeweiligen Einkommen und der damit verbundenen Möglichkeit zusammen, diese zu umgehen.

Zudem war es nur zwischen 3 und 5% der jüdischen Bevölkerung erlaubt, an Universitäten zu studieren. Auch im Beruf, v.a. in solchen mit akademischem Grad, setzte sich diese Diskriminierung fort. So schreibt MÉTRAUX (1994), dass es beinahe aussichtslos für einen Juden war, Dozent an einer Universität zu werden. Wie erfolgreich der Universitätsabschluss war, zählte dabei nicht.

Der Nachteil, nicht an den Bildungsgütern des Landes teilhaben zu dürfen, veranlasste viele, die die geldlichen Mittel besaßen, in Deutschland zu studieren (COLE 1979b). Außerdem hatte er zur Folge, dass an die Kinder jüdischer Familien oft große Erwartungen hinsichtlich Leistung und Bildung getragen wurde.

1.2 Restriktionen und Möglichkeiten

Die von der Regierung gesetzten Zwänge hatten auch Auswirkungen auf ausbildungstechnische und berufliche Chancen der Mitglieder aus Lurijas Familie.

Alexandr Romanovics Vater, Roman Albertovic Lurija, hatte es geschafft, unter den 3-5% zu sein, die studieren durften und er beendete schließlich 1902 in Kasan sein Medizinstudium so erfolgreich, dass sich ihm eine Universitätslaufbahn im medizinischen Bereich eröffnet hätte, wäre die Regierung eine andere gewesen (COLE 1979b; MÉTRAUX 1994). So war er quasi gezwungen, in einer privaten Praxis zunächst auf dem Land, dann in Kasan selbst als Spezialist für Magen- und Darmkrankheiten zu praktizieren. Mehrere Sommer verbrachte er in Deutschland, um dort sein Medizinstudium zu erweitern und weiterzuführen.

Diese Tatsachen im Werdegang seines Vaters und die gesellschaftspolitischen Umstände der Zarenzeit hatten auch Auswirkungen auf die Ausbildung des Sohnes. So lernte Alexandr Romanovic früh Deutsch, da diese Sprache in seiner Familie als Zweitsprache gesprochen wurde, aber auch Französisch. In diesem Zusammenhang schreibt COLE (1979b), dass den jungen Lurija auch die politischen, sozialen und wissenschaftlichen Ideen des 19. Jahrhunderts in Deutschland in seiner intellektuellen Entwicklung vor der Oktoberrevolution geprägt haben.

Zudem machte ihn sein Vater, der sich als Arzt sehr für psychosomatische Heilkunde interessierte, in jener Zeit mit den Werken S. Freuds und C. G. Jungs bekannt (NEUMÄRKER/ BZUFKA 1987). Dieses Interesse teilten Vater und Sohn zeit ihres Lebens und beeinflusste v.a. den weiteren Werdegang des Letzteren.

Alles in allem betrachtet führte der junge Lurija bis zu den politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen, die sein Land 1917 erfahren sollte, ein ruhiges vom Ersten Weltkrieg wenig berührtes Leben in der Provinz, das er sich, wie aus MÉTRAUX (1994) hervorgeht, dadurch „versüßte", indem er öffentliche Vorträge an der Universität besuchte, an Gesprächszirkeln teilnahm und seine Vorliebe für belletristische Literatur (vorzugsweise Kriminalromane - dies hat er sich SACKS (1991) zufolge bis ins hohe Alter bewahrt) entdeckte.

Im Hinblick auf seinen späteren Lebensweg erhielt Lurija die bestmögliche Bildung und Förderung.

Anzumerken sei noch, dass auch Lurijas Mutter Akademikerin war. Sie hatte Zahnmedizin in Polen studiert. Anders wäre dies nicht möglich gewesen, da es Frauen in Russland zur damaligen Zeit untersagt war, eine höhere Bildung zu erlangen (LURIJA, E. 1991).

1.3 Die Revolution und ihre Auswirkungen auf A. R. Lurija

1917 war Lurija 15 Jahre alt und besuchte die sechste Klasse Oberstufe des Gymnasiums. Die Nachricht von der Revolution im Februar erhielt er in der entlegenen Stadt Kasan zwar erst im Mai, doch für Lurija begann nun ein bewegter Lebensabschnitt. Er selbst schreibt darüber:

„Aus heutiger Sicht fällt es schwer, die einschnürende Atmosphäre im zaristischen Russland zu verstehen. (...) Die Revolution veränderte alles. Sie beseitigte Klassenschranken und eröffnete uns neue Perspektiven. Zum ersten Mal konnten Menschen in Russland ihren Lebensweg ungeachtet der sozialen Herkunft gestalten" (LURIJA 1993, 23).

Die Auswirkungen der Revolutionwaren auch für Lurijas Familie tiefgreifend. Bei COLE (1979b) liest man, dass Roman Albertovic Lurija endlich eine seinen Fähigkeiten entsprechende Stellung an der Kasaner Universität bekam. In den 20er Jahren baute er als ihr erster Direktor ein medizinisches Institut für bessere Ausbildung auf, und wurde schließlich in Moskau mit der Aufgabe betraut, die medizinische Ausbildung im ganzen Land zu organisieren und zu koordinieren.

Alexandr Romanovic selbst konnte durch diese außergewöhnliche geschichtliche Situation bereits mit sechzehn Jahren in Schnellkursen sein Abitur machen und musste nicht mehr wie sein Vater um einen Studienplatz bangen. Er konnte nun vielmehr seine Ausbildung nach seinen eigenen, weitgefächerten Interessen gestalten.

Die Revolution hatte in Lurija und seinen Altersgenossen den Blick für neue Wissensgebiete wie Philosophie und Soziologie eröffnet. Wie sehr sich v.a. die junge Generation für den Umbruch begeisterte und diesen ersehnt hatte, wird an folgendem Zitat Lurijas deutlich:

„ Obwohl meine Freunde und ich keine Ahnung von den eigentlichen Ursachen der Revolution hatten, verschrieben wir uns sofort mit Herz und Seele der neuen Bewegung. Mein Enthusiasmus entsprang mehr einem starken romantischen Gefühl für die Ereignisse jener Zeit als einer gründlichen intellektuellen Bewertung der gesellschaftlichen Wurzeln" (LURIJA 1993, 24).

Es ist anzunehmen, dass diese Begeisterung mit ein Grund dafür war, dass Alexandr Romanovic sich zu einem Studium der Gesellschaftswissenschaften entschloss. Er suchte dort nach einer Möglichkeit, die Ideale des Sozialismus mit seinem beruflichen Leben in Einklang zu bringen.

COLE (1979b) zufolge war A. R. Lurijas Vater nicht von der richtigen Studienwahl seines Sohnes überzeugt. Er hätte ihn gerne in seine Fußstapfen treten sehen. Dass diese Unstimmigkeiten eine Art Vater-Sohn-Konflikt heraufbeschworen haben, ist nur zu vermuten. COLE nimmt an, Lurija habe anfangs nur um seinen Vater zu besänftigen während seines Studiums und auch die Jahre danach immer Beziehungen zu medizinischen Hochschulen aufrechterhalten.

1.4 Studienjahre

Nach der Revolution ging Alexandr R. Lurija mit begeisterter Motivation an die Arbeit und nahm alle Möglichkeiten wahr, die sich ihm zur fachlichen Ausbildung boten (PICKENHAIN 1994). Sein Studium, das er 1918 begann, war geprägt von völlig chaotischen politischen Verhältnissen und Wirren der Zeit unmittelbar nach der Revolution. LURIJA (1993) schreibt von unvorstellbarem Chaos, das durch große Studentenzahlen, einem Mangel nicht nur an Professoren und der Schwierigkeit entstanden war, das Studium an die neue Situation anzupassen. Wie auch in heutiger Zeit üblich, formierten und versammelten sich deshalb Studentengruppen und wissenschaftliche Vereinigungen und erörterten in Diskussionen die Politik und Gesellschaft dieser neuen Zukunft.

In diesem Zusammenhang begann Lurija, sich intensiver mit den Ideen des sogenannten utopischen Sozialismusauseinander zu setzen. Damit verbunden beschäftigten ihn vor allem Grundfragen zum sozialen Leben des einzelnen Menschen in seiner jeweiligen Gesellschaft wie z. B. zur Entstehung, Entwicklung und Ausbreitung sozialer Ideen und deren Potenzial, Konflikte oder Veränderungen hervorzurufen (LURIJA 1993).

FEUSER (1994) legt in diesem Zusammenhang die politische Orientierung Lurijas dar:

„Leitende Theorie und erkenntnisphilosophische Grundlage war für ihn, seiner humanen Dimension wegen, der Marxismus - Leninismus, nicht verordnet, sondern aus Überzeugung ..." (FEUSER 1994, 161).

Die Forschungen, die Lurija sein ganzes Leben durchgeführt hat, seien es solche im Rahmen kulturhistorischer oder auch neuropsychologische Untersuchungen, lassen sich immer wieder mit diesen Grundfragen in Verbindung bringen. Je weiter auch diese Arbeit in das Leben dieses Wissenschaftlers vordringt, desto klarer sollen seine Vorstellungen vom Menschen und seiner Psyche werden, an die er sich von so vielen Seiten herangewagt hat.

 

1.4.1 Psychologie

Die Antwort zu seinen Grundfragen über das Wesen des Menschen, mit denen er sich während seines Studiums beschäftigte, waren für Lurija v.a. in der Psychologie, der Wissenschaft vom Menschen, zu suchen. Er begann, sich intensiv mit diesem Gebiet auseinander zu setzen, dem er Zeit seines Lebens treu geblieben ist.

Diese Auseinandersetzung erfolgte vor dem geschichtlichen Hintergrund der revolutionären Geschehnisse jener Zeit. Der Wechsel von einer Staatsform (Diktatur) in eine völlig andere (Sozialismus) war schließlich mit der revolutionären Tat alleine nicht getan. Was nun folgen musste, war ein Umdenken der Gesellschaft, welches das ganze Land erfassen sollte.

Lurijas erklärtes Ziel war die Entwicklung eines konkreten psychologischen Ansatzes, mit Hilfe dessen die Ereignisse des gesellschaftlichen Lebens untersucht werden konnten. (LURIJA 1993).

Er begann seine Laufbahn als Psychologe, indem er sich in die grundlegenden Aussagen bzw. Kontroversen derer vertiefte, die ein Vierteljahrhundert früher die Psychologie als Wissenschaft ins Leben gerufen hatten (COLE 1979a). So stieß er auf der Suche nach einer Psychologie, die sich mit dem tatsächlichen Menschen und dessen Leben auseinandersetzt, auf führende Vertreter der damals vorherrschenden psychologischen Richtungen und las dank seiner Fremdsprachenkenntnisse - denn ins Russische war bis dato wenig übersetzt worden - z. B. Werke der sog. experimentellen Psychologie nach Wilhelm Wundt (1832 - 1920) oder Hermann Ebbinghaus (1850 - 1909). Ziel dieser der Naturwissenschaft zugewandten Richtungen war es, hinter die grundlegenden Elemente des menschlichen Geistes zu kommen und deren Zusammenspiel aufzudecken und mit Hilfe experimenteller Untersuchungen diese Elemente und damit die menschliche Psyche zu erklären (LURIJA 1988/1993; MÉTRAUX 1994).

Von dieser unterschied sich der Ansatz des Geisteswissenschaftlers Wilhelm Diltheys (1833 - 1911), Begründer der sog. „Verstehenden Psychologie", deren Basis das Verstehen des menschlichen Lebens und Handelns war (LURIJA 1993, 29). Dilthey forderte, dass die psychischen Prozesse des Menschen immer vor dem Hintergrund seiner konkreten geschichtlichen Situation untersucht werden müssen und wandte sich damit gegen die Richtung der experimentellen Psychologen, bei denen die Individualität psychischer Prozesse in abstrakten Verallgemeinerungen untergehe (MÉTRAUX 1994; DILTHEY 1999).

Lurija stieß also auf eine grundlegende Kontroverse zwischen zwei Hauptströmungen der Psychologie: War die Psychologie eine Naturwissenschaft oder war sie eher zu den Geisteswissenschaften zu zählen? War sie als eine der Naturwissenschaft gemäße erklärende (in der Fachsprache „nomothetisch" genannte) Psychologie oder im Sinne der Geisteswissenschaft als beschreibende („idiographische") Psychologie zu verstehen? Keine konnte jedoch in den Augen Lurijas von sich behaupten, eine Wissenschaft von der Natur des Menschen zu sein; eine solche Wissenschaft schien nicht einmal möglich zu sein (SACKS 1993). Er sah aus dieser Diskussion heraus vielmehr den Bedarf für die Begründung einer neuen Psychologie, die diese beiden gegensätzlichen Strömungen ergänzend miteinander verbinden und dieser „geistlos leeren Bühne" (SACKS 1993, 15) einen Sinn geben konnte.

Lurija wollte eine Psychologie, „die sich auf reale Menschen bezieht, wie sie ihr Leben leben, nicht eine intellektuelle Abstraktion im Labor" (LIST 1994, 89).

Psychologie sollte als Wissenschaft individueller Gesetzmäßigkeiten verstanden werden. Diesen Sachverhalt hatte Lurija nun zwar für sich erkannt, aber es fehlten ihm zu jener Zeit das notwendige methodische Instrumentarium und vor allem ein umfassender Ansatz als Grundlage einer neuen Psychologie. Erst im wissenschaftlichen Austausch mit L. S. Wygotskij, der diese Kontroverse einige Jahre später als grundlegende Krise der Psychologie bezeichnen sollte, und der Troijka einige Jahre später sollte dies verwirklicht werden (siehe I, 3).

Angemerkt werden sollte an dieser Stelle noch, dass Lurija sich mit den Inhalten dieser psychologischen Richtungen ohne Anleitung durch akademische Lehrer auseinander setzte und sie reflektierte. So konnte er sich als „Außenseiter", wie MÉTRAUX (1994) ihn bezeichnet, unbeeinflusst ein neutrales Bild von der „psychologischen Landkarte" erstellen. Zudem lieferte dieses Studium eine wichtige Grundlage für die spätere wissenschaftliche Zusammenarbeit mit Wygotskij und Leontjew in der Troijka, die ebenso und unabhängig voneinander zu ähnlichen Vorstellungen gekommen waren. Damit war eine gemeinsame Basis geschaffen.

Über die 55 Jahre seiner aktiven Forschungstätigkeit und Auseinandersetzung mit den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen hinweg hat Alexandr R. Lurija nie aufgehört, sich mit jenen grundlegenden Problemen der Psychologie zu beschäftigen und die Problematik immer wieder unter anderen Aspekten aufgegriffen.

 

1.4.2 Psychoanalyse

Vor diesem Hintergrund - der Suche nach der Beschaffenheit der Psychologie - befasste sich A. R. Lurija Mitte der zwanziger Jahre auch mit der dynamischen Betrachtungsweise in der Psychoanalyse. Diese sieht das menschliche Verhalten und die Psyche als ein bewegliches Gleichgewichtssystem an, das durch den Einfluss innerer Reize und aus der Außenwelt eindringender Einwirkungen ständigen Veränderungen unterworfen ist (VOCATE 1987). In diesem Zusammenhang setzte er sich kritisch mit den frühen Werken Sigmund Freuds, Alfred Adlers und Carl G. Jungs, besonders mit Freuds Traumdeutungen und seiner Erforschung emotionaler Konflikte auseinander.

Wie MÉTRAUX (1994) berichtet, sah Lurija in der frühen Psychoanalyse nach Sigmund Freud gleichsam die Erlösung für die Kontroverse in der Psychologie. Sie lieferte einen ersten Ansatz, die gegensätzlichen Ansätze nomothetisch-idiographisch überwinden zu können. Denn der Ansatz der Psychoanalyse brachte neues Gedankengut in die wissenschaftliche Welt und damit in die Diskussionen ein: Ihre Vertreter gingen davon aus, dass psychische Tätigkeiten (wie Denken, Handeln, Planen etc.) vor dem Hintergrund ihres geschichtlichen Charakters gesehen werden müssen und somit der Gegensatz zwischen individual- und sozialpsychologischen Kategorien aufgehoben werden könne (MÉTRAUX 1993b). Das heißt, das Individuum mit den ihm innewohnenden Zuständen und Prozessen wird in der Psychoanalyse nicht mehr als autonome Größe gesehen. Es wird vielmehr anerkannt, dass das Psychische zwar ein Produkt der Hirntätigkeit ist, doch gleichzeitig ständig unter dem Einfluss sozialer Umwelteinwirkungen steht, die auf das Unterbewusstsein einwirken (PICKENHAIN 1994). Die Psychoanalyse vereint folglich Natur und Kultur in einer Wissenschaft, in der das Subjekt in seiner ganzen Vielschichtigkeit einen zentralen Platz in der wissenschaftlichen Forschung einnimmt. Lurija faszinierte dabei die Bedeutung, die dem Unterbewusstsein in bezug auf die menschliche Psyche zugeschrieben wurde (GOLDBERG 1990).

Durch diese Hinwendung zur Psychoanalyse, die auch dem Trend der damaligen Zeit entsprach, wurde Lurija 1922 zu einem Mitbegründer der sog. Kasaner Psychoanalytischen Vereinigung, die nach MÉTRAUX (1993b) bald darauf im Frühjahr 1923 bereits 21 Mitglieder und fünf Gäste zählen konnte. Er hatte dort die Rolle des Sekretärs inne und hielt Kontakt zu anderen psychoanalytischen Vereinigungen, wie die in Wien oder Moskau. Außerdem stand er in Briefkontakt zu Freud selbst, regte Übersetzungen von Schriften Freuds ins Russische an und hielt mehrere Vorträge mit psychoanalytischer Thematik (Psychologie in Russland, Vorschlafphantasien oder die Psychoanalyse des Kostüms, Psychoanalyse und Marxismus) im Zeitraum von September 1922 bis September 1923 und veröffentlichte mehrere Artikel (ELROD 1989).

In dieser intensiven Auseinandersetzung, aber auch später unter dem Einfluss Wygotskijs, kam Lurija allerdings zu dem kritischen Schluss, „dass es ein Irrtum sei, menschliches Verhalten aus den ‚Tiefen‘ des Bewusstseins zu erklären und die sozialen ‚Höhen‘ auszuklammern" (LURIJA 1993, 31). Außerdem kritisierte er den Mangel an Objektivität der psychoanalytischen Methode. Erst später wurde Lurija die Tragweite des Biologischen in Zusammenhang mit der Neuropsychologie - als Grundlage höherer psychischer Tätigkeiten - bewusst (SACKS 1993). Doch letztendlich konnte ihm auch die Psychoanalyse keine befriedigende Antwort auf das Wesen der Psychologie geben.

Jedoch hat er Freud und dessen tiefenpsychologische Lehre nie ganz außer Acht gelassen und hat psychoanalytische Fragen und Deutungen zeitlebens in seine Forschungen wie z. B. in seine ersten Studien in Moskau oder in der Auseinandersetzung mit der Neuropsychologie mit einbezogen. In der Literatur werden in diesem Zusammenhang oft Parallelen und Unterschiede zwischen Freud und Lurija aufgezeigt (siehe weiterführende Literatur).

Erwähnt werden muss in diesem Kontext auch ein nicht zu missachtender gesellschaftspolitischer Aspekt, der auch für Lurija von Bedeutung gewesen sein dürfte. MÉTRAUX erwähnt dies im Zusammenhang des Interesses Freuds an der Institutionalisierung der Psychoanalyse in Russland, das in seinen Briefen an Lurija vielleicht gerade deshalb zum Ausdruck kommt, da dieses Land

„seit dem Ende der zwanziger Jahre für seine radikal anti-psychoanalytische Wissenschaftspolitik bekannt geworden ist. Dies hatte (...) zur Folge, dass die seit damals bestehenden Hürden (nach wie vor [also auch nach der Revolution, Anm. d. Verf.] erschwerter Zugang zu Archiven, behinderte Befragung von Zeitzeugen und dergleichen) die wissenschaftshistoriographische Neugier immer wieder zum Erlahmen brachten" (MÉTRAUX 1993b, 7).

Dieser Hintergrund sollte auch im Folgenden gegenwärtig sein, wenn Lurija und seine späteren Mitarbeiter sich kritisch äußern und den Mut haben, psychoanalytisches Gedankengut trotz politischer Ablehnung in ihre Forschungen mit einzubringen.

Weiterführende Literatur:

  • Bourguignon, A. (1983): Geschichte der Psychoanalyse. In: Sournia, Poulet, Martiny (Hrsg.): Illustrierte Geschichte der Medizin, Bd. 7. Salzburg. 2403 - 2429
  • Elrod, N. (1989): Freud und Luria und Wygotski. Psychoanalytiker und Kritiker der Psychoanalyse in der Sowjetunion. In: Nitzschke, B. (Hrsg.): Freud und die akademische Psychologie. München. 181 - 190
  • Solms, M. (1998): Auf dem Weg zu einer Anatomie des Unterbewußten. In: Koukkou, M./Lenzinger-Bohleber, M./Mertens, W. (Hrsg.): Erinnerung von Wirklichkeiten, Bd.1. Stuttgart. 416 - 461
  • Weitere Informationen zu S. Freud: www.m-ww.de/persoenlichkeiten/freud.html

 

1.4.3 Medizin und Psychologie

An dieser Stelle muss in der Chronologie ein Schritt zurückgegangen werden, um die Vielbeschäftigung und vielschichtigen Interessen v.a. während der zwei Jahre nach Lurijas erstem Studium aufzeigen zu können, die ihn schließlich zu seinem nächsten wissenschaftlich bedeutsamen Lebensabschnitt führten.

1921 schloss Lurija sein gesellschaftswissenschaftliches Studium ab und stand nun wieder vor der Frage, welchen Weg er einschlagen sollte. Sein Vater witterte erneut Hoffnung und bestärkte ihn, Mediziner zu werden, während Alexandr Romanovic selbst, wie schon berichtet, sich eher der Psychologie zugeneigt fühlte.

Dieses Interesse war zum einen durch die intensiv geführte Auseinandersetzung Lurijas mit dieser Wissenschaft erklärbar, zum anderen durch die völlig neue gesellschaftspolitische Situation (siehe I, 1.2; 1.3), die er mit Hilfe eines konkreten Ansatzes von der psychologischen Seite aus untersuchen wollte (LURIJA 1993).

Als Kompromisslösung ging er ein Doppelstudium ein, durch das der Grundstein für seine spätere wissenschaftliche Laufbahn als Neuropsychologe gelegt wurde. Doch sein Interesse an der Psychologie überwog, so dass er sein Medizinstudium nach vier Semestern abbrach und am pädagogischen Institut und an der Psychiatrischen Klinik in Kasan weiterstudierte mit dem Ziel, sich psychologische Laborkenntnisse und -methoden anzueignen.

Da der Mangel, der als Relikt der Zarenzeit überall herrschte, auch auf diesen Bereich zutraf, gestaltete sich das Vorhaben schwierig. Deshalb nutzte Lurija die Gelegenheit und nahm zusätzlich eine Stelle als Laborant am Kasaner „Institut für wissenschaftliche Arbeitsorganisation". Die Arbeit im Laboratorium wird an dieser Stelle deshalb erwähnt, weil sie ein Sprungbrett für die weitere Karriere Lurijas darstellt, das ihn letztendlich nach Moskau und zur richtungsweisenden Bekanntschaft mit Lev Wygotskij befördern sollte.

Denn dort führte A. R. Lurija nach eigenem Bericht (LURIJA 1993) mit Hilfe einfacher Geräte erste Untersuchungen, wie z. B. über den Einfluss von Ermüdung auf motorische Reaktionen, durch, die er in wissenschaftlicher Manier veröffentlichen wollte. Raum für diese Veröffentlichungen sollte eine selbstgegründete Zeitschrift ermöglichen, die Lurija und seine Kollegen mit dem Titel „Probleme der Psychophysiologie der Arbeit" ins Leben riefen. Erwähnt werden muss auch , dass W. M.,der schon zu Beginn erwähnt wurde und dessen Arbeiten über die Reflexologie und dessen materialistische wissenschaftliche Grundposition Lurija damals schätzte, Chefredakteur der wissenschaftlichen Zeitschrift wurde (unter der Bedingung, den Titel um die Wörter „und der Reflexologie" zu erweitern).

Diese Veröffentlichungen machten einen gewissen Professor K. L. Kornilow auf Lurija aufmerksam und so wurde ihm schließlich im Jahr 1923 eine Stellung am Psychologischen Institut in Moskau, das Konstantin Kornilow seit kurzem leitete, angeboten, die er annahm.

1.5 Zusammenfassung

Alexandr Romanovic Lurija wird 1902 in Kasan, einer Universitätsstadt an der Wolga, geboren. Er verlebt eine bereits durch den Vater, einen Mediziner, wissenschaftlich geprägte, doch unbeschwerte Jugend. Die Familie ist jedoch Restriktionen durch die zaristische Regierung ausgesetzt.

Die Revolution 1917, deren Ziele Lurija unterstützt, eröffnen neue Perspektiven. Lurija macht in Schnellkursen sein Abitur und ergreift ein Studium der Gesellschaftswissenschaften.

Nach Abschluss dieses Studiums wendet er sich auf der Frage nach dem Wesen des Menschen der Psychologie zu. Dabei stößt er zum ersten Mal auf die grundlegende Kontroverse, die damals in der Psychologie vorherrscht: Auf der einen Seite die sog. nomothetische Richtung der Psychologie, welche die menschliche Psyche in ihre Elemente zergliedern und dadurch erklären will. Auf der anderen Seite die sog. idiographische Psychologie, welche die Psyche über ihre Beschreibung als ganzheitliche Erscheinung verstehen will.

In Lurijas Augen kann mit keiner von beiden nach individuellen Gesetzmäßigkeiten ein Bezug zum realen Menschen hergestellt werden.

Einen vorläufigen Ausweg aus jener Krise sieht Lurija in der Psychoanalyse, die ein anderes Menschenbild vertritt. Das Individuum wird nicht mehr als autonom von seiner Umwelt betrachtet, sondern in seiner Geschichtlichkeit und unter dem Einfluss der sozialen Umwelt. Diese wirken auf das Unterbewusstsein des Menschen, beeinflussen also sein Handeln.

Der Hinwendung zur Psychoanalyse folgen Taten: 1922 wird Lurija Sekretär der Kasaner Psychoanalytischen Vereinigung und veröffentlicht psychoanalytische Abhandlungen.

Auch wenn Lurija der Psychoanalyse nicht kritiklos gegenüber steht, bezieht er psychoanalytisches Denken immer wieder in seine Forschungen mit ein.

1921 schließt Lurija sein Studium der Gesellschaftswissenschaften ab und beginnt ein Doppelstudium Medizin und Psychologie. Doch sein Interesse liegt klar auf der Seite des Letzteren, so dass er sich der Psychologie als Laborant im "Institut für wissenschaftliche Arbeitsorganisation" völlig zuwendet.

Seine Forschungen dort werden in einer eigens gegründeten wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlicht, in der W. M. Bechterew Chefredakteur ist. Aufgrund dieser Veröffentlichungen wird K. L. Kornilow, Professor in Moskau, auf Lurija aufmerksam und holt ihn nach Moskau an das Psychologische Institut.

 

Auszug aus: Wagner, C. (2001). Alexandr R. Lurija: Leben und Werk. Unveröffentlichte Examensarbeit, Universität Würzburg.
Mit freundlicher Genehmigung von PD Dr. phil. Erwin Breitenbach, Lehrstuhl für Sonderpädagogik I, Philosophische Fakultät III

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