3. Lurija, Wygotskij, Leontjew

  • „Ich begegnete Lew Semjonowitsch WYGOTSKI zum ersten Mal in Leningrad 1924 auf dem II. Psychoneurologischen Kongreß. Ich war selbst erst ein Jahr zuvor aus Kasan nach Moskau gekommen, (...). Wir, die Mitarbeiter des Instituts, fuhren zum II. Psychoneurologischen Kongreß nach Leningrad, und dort sah ich zum ersten Mal Lew Semjonowitsch WYGOTSKI. Ans Rednerpult ging ein junger Mann, dessen Vortrag sowohl inhaltlich als auch der Form nach in Erstaunen versetze" (LURIJA 1988, 165).

Mit diesen Worten beschreibt Alexandr Romanovic Lurija seine erste und entscheidende Begegnung im Januar 1924 mit dem Mann „von kleinem Wuchs, gut rasiert, mit schwarzen Haaren, einem schönen Gesicht und einem kleinen Zettel in der Hand" (LURIJA 1988, 167), mit dem ihn die nächsten zehn Jahre eine intensive Zusammenarbeit und auch Freundschaft verbinden sollte. L. S. Wygotskij (1896 - 1934) hatte die Aufmerksamkeit der versammelten Zuhörerschaft in zweifacher Hinsicht auf sich gelenkt: Zum einen beeindruckte seine Rhetorik und seine klaren Gedankengänge (der Zettel war völlig weiß, es war lediglich eine Angewohnheit Wygotskijs).

Zum anderen sorgte neben dem formalen auch der inhaltliche Aspekt für Furore (LURIJA 1988): Der Vortrag mit dem Titel „Das Bewusstsein als Gegenstand der Psychologie" setzte sich klar vom damals vorherrschenden Trend der Psychologie ab, den Subjektivismus, der das (nicht objektivierbare) subjektive Bewusstsein zum Gegenstand hatte, zu überwinden und sich an den Lehren Bechterews, Kornilows und Pawlows zu orientieren, die - vereinfacht gesagt - menschliches Verhalten als eine Aneinanderreihung von Reflexen ansahen (siehe Exkurs).

Wygotskij wagte vielmehr die schwierige Aufgabe, zwischen den sich scheinbar ausschließenden Komponenten menschlichen Verhaltens, zwischen Bewusstsein und bedingten Reflexen einen Zusammenhang aufzuzeigen und die Wechselwirkungen zu beschreiben (LURIJA 1993). Die Darlegung seines Standpunktes war beeindruckend, und wenn sie auch nicht für alle überzeugend war, so stand sie letztendlich im Einklang mit den Ideen der neuen Wissenschaftlergeneration nach der Revolution.

Dies führte dazu, dass Lev Wygotskij daraufhin von Kornilow, dem Leiter des Institutes, der auch Lurija berufen hatte, eine Stelle am Psychologischen Institut in Moskau angeboten bekam (LURIJA 1993; MÉTRAUX 1993a). Diese nahm er an und blieb dort mit Unterbrechungen ab diesem Zeitpunkt bis zu seinem Tod zehn Jahre später in Moskau tätig. Da auch Leontjew und Lurija dort arbeiteten, fanden sich die drei Wissenschaftler zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammen, die des weiteren als "Troijka" (Dreigespann, Dreieinigkeit) in die Wissenschaftsgeschichte einging.

Das Arbeitsfeld der Troijka bezeichnet MÉTRAUX (1986; 1994) als äußerst vielschichtige, intensive und empirische Arbeit:

Das Dreigespann nahm weiterhin ihre Lehrtätigkeit wahr und führte Studenten in die Psychologie ein und Experimente durch. Dies erfolgte nicht nur in Laboratorien, sondern auch in öffentlichen Parkanlagen oder in Krankenhäusern. Außerdem rezipierten sie ausländische Fachliteratur, die sie wiederum in ihren Lehrveranstaltungen weitergaben bzw. ins Russische übersetzten. Zu ihrer Hauptaufgabe hatten sie es allerdings gemacht, den Gegenstand der Psychologie neu zu definieren. In diesem Zusammenhang diskutierten sie die Situation der Psychologie zu jener Zeit. Alle drei hatten sich bereits im Vorfeld mit diesem Metier (siehe I, 1.4.1), befasst, hatten folglich eine gemeinsame Basis, auf der es ihnen möglich erschien, einen Weg aus dieser Situation, die Wygotskij als zu überwindende Krise bezeichnete, entwickeln zu können. Der Weg lag für das Dreigespann im Aufbau einer kulturhistorischen Theorie des Psychischen. Die kulturhistorische Schule der sowjetischen Psychologie geht aus dieser Arbeit der Troijka hervor, in deren Mittelpunkt die Problematik einer Neubestimmung des Bewusstseins- oder Subjektbegriffs und die damit verbundene zentrale Bedeutung der Sprache als kulturell vermitteltes Werkzeug stand.

Weiterführende Literatur (zu Leben und Werk Wygotskijs):

  • Métraux, A. (1992): Einleitung: Zu Lev Vygotskijs historischer Analyse des Psychischen. In: Wygotskij, L. S.: Geschichte der höheren psychischen Funktionen. Münster/ Hamburg. 1 - 24
  • Miller, P. (1993): Theorien der Entwicklungspsychologie. Heidelberg. 339 - 358
  • Veer, van der R. (1993): Lev Wygotsky. In: Lueck/Miller (Hrsg.): Illustrierte Geschichte der Psychologie. 136 - 138

3.1 Exkurs: Die Krise der sowjetischen Psychologie

Die psychologischen Überlegungen, mir denen sich Lurija und Wygotskij intensiv beschäftigten, sind leichter nachzuvollziehen, wenn man die Situation der Psychologie in der damaligen Zeit kennt, in der sie ihre Form annahm. In Kapitel I, 1.4.1 sind sie bereits angeklungen. Hier werden nun die wichtigsten Strömungen in jener Zeit in einem kurzem Abriss dargestellt, durch den es möglich sein soll, den Versuch einer grundlegenden Rekonstruktion der Psychologie als Wissenschaft einordnen und verstehen zu können.

3.1.1 Strömungen der Psychologie Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts

Die europäische Psychologie war zu der Zeit in eine Reihe ineinandergreifender Diskussionen darüber verwickelt, welche Art von Wissenschaft die Psychologie sein könnte.

Auf der einen Seite wurde sie als eine experimentelle Wissenschaft angesehen nach dem Vorbild der Naturwissenschaften (COLE 1990). Auf der anderen Seite zählte man sie zur beschreibenden Wissenschaft nach dem Vorbild der Geschichte und der Geisteswissenschaft. Damit einhergehend stand die Frage im Raum, ob psychologische Gesetze durch nomothetische Verallgemeinerungen erklärt werden können, die auf eine Gesamtheit angewendet würden oder idiographischen Beschreibungen folgen sollen, welche die Dynamik des einzelnen, individuellen Geistes beleuchten. Sollte die Psychologie also als eine Wissenschaft des Labors angesehen oder konnte sie auch direkt auf das tägliche Leben der Menschen angewendet werden?

3.1.1.1 Naturwissenschaftlicher Ansatz

Hautforschungsgegenstand der psychologischen Wissenschaft bis vor ca. 100 Jahren war die „seelische Welt", die als eigenständige Welt von Erscheinungen angesehen wurde (LURIJA 1992a). Die klassische Psychologie war eine individualistische Wissenschaft, für die primär die Innenwelt des Menschen von Interesse war.

Sie lehnte es COLE (1979a) zufolge ab, diese Innenwelt als eine bloße „Materie in Bewegung" anzusehen. Man wollte vielmehr hinter die Grundelemente des menschlichen Geistes und die Art ihres Zusammenspiels kommen. Dabei sollte die Psyche introspektiv (durch Selbstbeobachtung) ergründet werden. Das heißt, die Psyche benutzt sich selbst als Werkzeug, um sich zu erforschen.

Diese Anschauung gründete in den sog. Gesetzen der Assoziation, wobei davon ausgegangen wurde, dass auf dieser Grundlage die gesamte Organisation der Psyche aufgebaut war (LURIJA 1986). In experimentellen Situationen versuchte man, diese Grundelemente, aus denen sich das Bewusstsein zusammensetzt, zu erforschen. Damit war das psychologische Experiment ins Leben gerufen.

Mit der experimentellen Psychologie wurde das Zeitalter der modernen Psychologie eingeleitet, wobei W. Wundt (1832 - 1920), der das erste Institut für Experimentelle Psychologie an der Universität Leipzig aufbaute, als Begründer dieses neuen Entwicklungsabschnittes gilt (FRÖHLICH 1998). Durch die Eröffnung der ersten Universität wurde die Psychologie als Erfahrungswissenschaft auch räumlich von der Philosophie getrennt, die vorher eng miteinander verknüpft waren. Die Trennung hatte auch damit zu tun, dass in den Naturwissenschaften enorme Fortschritte zu verzeichnen waren, die sich auf die Denkmodelle und Methoden der Psychologie auswirkten.

Die Folge war, dass der Bereich der Forschung in der Psychologie auf der Basis des Empirismus neu definiert und die Psychologie zur Naturwissenschaft gezählt wurde. Die Psychologie war nun ein Zweig der Physiologie, die Psychophysiologie (LURIJA 1993). Man wollte dadurch eine einheitliche Theorie des Verhaltens im Sinne der Naturwissenschaft.

Eine naturwissenschaftliche Psychologie definiert sich nach DORSCH (1998) dadurch, dass sie psychologische Erscheinungen vorwiegend empirisch und mit exakten und systematischen Methoden im Experiment untersucht und daraus allgemeine Gesetzmäßigkeiten abzuleiten versucht.

Mit diesen exakten und systematischen Methoden konnten jedoch nur elementare Phänomene des menschlichen Verhaltens auf physiologischer Basis erklärt werden, wie z. B. elementare Aufmerksamkeit oder einfache Funktionsweisen des Gedächtnisses oder man schob Phänomenen einfache Erklärungen zu (LURIJA 1992a). Dagegen konnten aktive bzw. höhere Formen des Psychischen wie beispielsweise Bewusstsein oder emotionales Erleben damit nicht erfasst werden oder wurden ignoriert. Bei Wundt wurden sie zum Gegenstand mentalistischer Beschreibungen gemacht.

3.1.1.2 Geisteswissenschaftlicher Ansatz

Neben dieser naturwissenschaftlichen Sichtweise gab es in der psychologischen Wissenschaftswelt eine schon erwähnte gegensätzliche Herangehensweise an psychologische Erscheinungen: Die an der Philosophie, von der sich die Naturwissenschaft klar abgesetzt hatte, orientierte Geisteswissenschaft. Hauptvertreter war W. Dilthey (1833 - 1911), der die Meinung vertrat, dass die Psychologie als spezielle Wissenschaft des Geistes anzusehen sei, die anderen Geisteswissenschaften wie der Philosophie, Geschichte oder Kunst als sog. Grundwissenschaft dienen sollte (COLE 1990). Ohne eine solche grundlegende Basis könnte die Geisteswissenschaft kein wirkliches System sein. Dabei schlug er eine entwicklungsgeschichtliche Annäherung an die Psychologie vor, die geistige Prozesse in ihrem Zusammenhang verstehen sollte. Diese Annäherung bezeichnete er als beschreibende Psychologie, die ihre Basis im Verstehen des realen Lebens hat, das wechselseitige Prozesse zwischen Menschen ebenso wie innerhalb eines Individuums mit einbezieht.

Der geisteswissenschaftliche Ansatz der Psychologie zielte also von seiner Methode her nicht auf die Zergliederung der psychischen Erscheinungen in ihre Elemente ab, sondern setzte das Verstehen des ganzen Wesens auch komplizierter psychologischer Gebilde in den Vordergrund, die der Meinung seiner Vertreter nach von der Naturwissenschaft vernachlässigt worden war. Man wollte sich durch die Methode der Beschreibung an das jeweilige Phänomen annähern.

Weiterführende Literatur:

  • Dilthey, W. (1999): Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. In: Lessing, H.-U.(Hrsg.): Philosophische Hermeneutik. Freiburg/München. 49 - 74
  • Ermath, M. (1978): Wilhelm Dilthey: The critique of historical reason. Chicago. U. of Chicago Press.

3.1.1.3 Weiterentwicklungen der naturwissenschaftlichen Psychologie

Mit dieser geisteswissenschaftlichen Absonderung zur Erklärung komplizierter geistiger Prozesse wollte sich die Naturwissenschaft wiederum nicht abfinden. Es entwickelten sich überwiegend in Amerika und Deutschland v.a. allem zwei Ansätze, die ihrerseits versuchten, neben der Erklärung elementarer auch wissenschaftliche Wege zur Untersuchung komplexer psychischer Prozesse zu finden (LURIJA 1986).

Diese Entwicklung vollzog sich nach LURIJA (1992a) in zwei „bemerkenswerten" Tendenzen:

Die eine zog in den Kreuzzug gegen das Subjektive und die Tradition in der Psychologie, alles mentalistisch beschreiben zu wollen. Sie wollte sich klar von der subjektiven Methode der Introspektion (Selbstbeobachtung) bzw. der Wissenschaft von der Seele abgrenzen und die Psychologie in eine objektive Wissenschaft vom Verhalten umzustrukturieren ohne Einbezug der Seele und auch ohne jeglichen Bezug zum Bewusstsein. Dieses wurde, weil subjektives Element, ausgeschlossen. Psychische Erscheinungen sollten auf der Basis des Materialismus als objektiver Mechanismus erklärt werden. Die Materie und nicht der Geist wurde als Grundlage des Verhaltens verstanden. Überhaupt stand das Verhalten im Vordergrund, da es von außen zu beobachten war, im Gegensatz zu inneren nicht beobachtbaren psychischen Prozesse wie Denken, Wahrnehmen, Problemlösen oder Wissen. Das Verhalten sollte dabei möglichst objektiv beobachtet und gemessen werden. Es wurde dabei angesehen als eine Reaktion auf einen mehr oder weniger komplexen Reiz.

Die Rede ist vom frühen Behaviorismus, der sich v.a. in Amerika mit Vertretern wie J. B. Watson (1878 - 1958), dem Begründer dieser Richtung, E. Guthrie (1886 - 1959) und E. L. Thorndike (1874 - 1949) auf fruchtbarem Boden bewegte mit dem Ziel, menschliches Lernen erklären zu können.

Zunächst unabhängig davon und unter anderen Voraussetzungen ging auch in Russland der Physiologe I. P. Pawlow in eine ähnliche Richtung. In der allgemeinpsychologischen Literatur wird Pawlow jedenfalls zu den Behavioristen gezählt (LEFRANCOIS 1994).

Heute wird v.a. dem frühen Behaviorismus, von dem hier die Rede ist, keine bedeutende Rolle mehr in der Wissenschaft zugeschrieben, da er eine etwas mechanistische Vorstellung von menschlichem Verhalten vertritt und höhere geistige Prozesse/Probleme nicht erklären kann. Doch er hat auch viel zur Weiterentwicklung von psychologischen (Lern-) Theorien beigetragen.

Etwa zur gleichen Zeit wie der frühe Behaviorismus entwickelte sich eine andere selbstständige Richtung. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, entgegen dem Assoziationismus, der die seelische Welt mechanisch aus einfachen Assoziationen zusammengesetzt sieht, eine Wissenschaft zu entwickeln, die einheitliche psychische Prozesse und ihre Gesetzmäßigkeiten untersuchen sollte (LURIJA 1992a).

Gemeint ist die Gestaltpsychologie, die v.a. in Deutschland mit Vertretern wie M. Wertheimer (1880 - 1943), K. Koffka (1886 - 1941), W. Köhler (1887 - 1967) oder in der Weiterführung bei K. Lewin (1890 - 1947) bekannt wurde.

Vor allem, weil sie sich mit Themen wie Wahrnehmung, Bewusstsein oder Einsicht beschäftigte, kann sie als Vorläufer der heutigen Kognitionspsychologie betrachtet werden (LEFRANCOIS 1994).

Das grundlegende Argument der Gestaltpsychologen gegen eine analytische Zergliederung des Verhaltens war, dass es nicht möglich ist, dieses in seinen Einzelteilen verstehen zu können. Vielmehr betonten sie die einzigartige qualitative Struktur der Dinge wie auch des Psychischen, deren jeweilige Eigenart bei einer Zerlegung verloren ginge. Bekannt geworden ist dabei der Satz: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile". Das heißt aber gleichzeitig, dass sie anerkannten, dass sich ein Ganzes aus Teilen zusammensetzt und dass diese Teile in der Analyse entdeckt werden können. Nur verstehen könne man das Ganze dadurch nicht. Diese Aussage grenzt die Gestaltpsychologie vom Behaviorismus ab und verdeutlicht so die Eigenständigkeit dieser Richtung.

LURIJA (1992a) führt hierfür zum besseren Verständnis ein Beispiel aus der physischen Welt an, das auch auf komplizierte psychische Erscheinungen übertragbar ist:

„Nehmen wir eine Seifenblase. Sie stellt eine bestimmte Struktur dar und ist ein einheitliches Ding. Wir können soviel versuchen wie wir wollen, sie in einzelne Teile zerschneiden oder ein Stückchen aus ihr herausnehmen usw.; es wird uns das nicht gelingen. Die Seifenblase existiert entweder als solche, oder sie hört auf zu existieren und zerplatzt in Tropfen, die bereits ihre eigene und eine andere Struktur besitzen" (LURIJA 1992a, 19).

Jede Gestalt hat also ihre eigene Struktur, deren Ganzes die Teile bestimmt und nicht umgekehrt. Das Ganze nimmt dabei eine andere Qualität an als seine Teile. So unterscheidet sich auch die Wahrnehmung von Ganzheiten (z. B. ein sich scheinbar bewegendes Lichtergeblinke einer Reklame etc.) von der ihrer Teile (periodisch aufleuchtendes einzelnes Licht).

Das sog. Gesamtgesetz der Gestaltpsychologie besagt dabei, dass die Tendenz vorhanden ist, dass alles Wahrgenommene immer die bestmögliche Gestalt annimmt (LEFRANCOIS 1994). Diese gute Gestalt wird wiederum von vier Prinzipien bestimmt, die jede Wahrnehmungserfahrung auszeichnen. Sie können in diesem Zusammenhang nur genannt, es kann jedoch nicht näher auf sie eingegangen werden: Es sind die Prinzipien der Geschlossenheit, der Kontinuität, der Ähnlichkeit und der Nähe.

Durch die vornehmliche Beschäftigung mit der Wahrnehmung konnten zudem neue Ansichten über die Gesetzmäßigkeiten des Nervensystems gewonnen werden. Man schloss, dass dieses als Ganzes funktioniert und nicht nur alleine einzelne Teile für den Ablauf psychischer Prozesse verantwortlich sind (LURIJA 1992a).

Weiterführende Literatur:

  • Fröhlich, W. D. (1998): dtv Wörterbuch Psychologie. München. 9 - 29
  • Lefrancois, G. (1994): Psychologie des Lernens. Berlin
  • Lurija, A. R.(1992): Die moderne Psychologie und der dialektische Materialismus. In: Jantzen, W.; Holodynskij, M.(Hrsg.): Studien zur Tätigkeitstheorie VII - A. R. Lurija heute. Bremen. 5 - 26

3.1.2 Psychologische Richtungen in Russland

3.1.2.1 Allgemeine Zielsetzungen

Betrachtet man die Situation der Psychologie zur damaligen Zeit in Russland, so muss der Aspekt miteinbezogen werden, dass sich das Land seit der Revolution 1917 in einer steten Umorganisation befand und bestrebt war, auch die Wissenschaften in den wirtschaftlichen und sozialen Wiederaufbau des Landes einzuspannen und auf marxistische Leitlinien hin auszurichten. Damit einhergehend wollte die sowjetische Psychologie eine Wissenschaft vom Menschen schaffen, die auf dem dialektischen Materialismus basierte (LURIJA 1993).

Das war eine klare Absage an eine subjektive Psychologie mit der seelischen Welt als Ausgangspunkt. Im Gegensatz zur Philosophie sollte diese Wissenschaft empirisch sein (KUSSMANN 1974).

Nach COLE (1979a) dominierten v.a. drei Richtlinien diese Diskussion:

  • die sowjetische Psychologie sollte marxistische Züge aufweisen
  • die Psychologie sollte ideologisch an den dialektischen Materialismus gebunden sein, d.h. alle Psychologen waren verpflichtet, in ihren Theorien eine materielle Grundlage des Bewusstseins aufzeigen zu können
  • die Psychologie sollte zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft beitragen

Der Einbezug in den Aufbau der Gesellschaft spiegelt die Wahrung einer engen Verknüpfung von Theorie und Praxis wider, der sich die sowjetische Wissenschaft verpflichtet hatte (HIEBSCH 1967).

So wurden an die Psychologie konkrete Aufgaben wie die Bekämpfung des Analphabetismus, die Lehrerausbildung, die Umgestaltung des kulturellen Lebens oder die Optimierung der Arbeitsproduktivität herangetragen, die unter der Bedingung der oben genannten ersten beiden Richtlinien verwirklicht werden sollten (MÉTRAUX 1994).

3.1.2.2 Bechterew, Pawlow, Kornilow - Reflexologie und Reaktologie

In dieser Zeit beeinflussten Größen wie Bechterew, Pawlow oder Kornilow die sowjetische Psychologie stark. Man wollte von der dem Idealismus nahestehenden subjektivistische Lehre von der bewussten Tätigkeit des Menschen abkommen und diese im behavioristischen Sinne durch einzelne streng determinierte Reflexe und Reaktionen ersetzen (LURIJA 1988).

Aus diesen Zielbestimmungen ergab sich der Gegenstand der psychologischen Forschung: Die Untersuchung des tierischen und menschlichen Verhaltens sowie die Wechselwirkung zwischen Organismus und seiner Umwelt, also das Einwirken der Umweltkräfte auf das Subjekt und die Rückwirkung dieses Subjekts auf die Umwelt (MÉTRAUX 1992).

Jeder Vertreter versuchte auf dieser Grundlage, eine eigenständige Richtung zu entwickeln, doch - wie Lurija ironisch in einer Vorlesung anmerkt - „manchmal unterscheiden sich Wissenschaftler ganz und gar nicht dadurch, womit sie sich beschäftigen, sondern dadurch, wie sie das nennen, womit sie sich beschäftigen" (LURIJA 1988, 165). Gemeinsam war allen ihre Sichtweise vom Verhalten als Summe von Reaktionen.

Weiterführende Literatur:

  • Kussmann, T. (1974): Sowjetische Psychologie: Auf der Suche nach der Methode. Bern
  • Matthäus, W. (1988): Sowjetische Denkpsychologie. Göttingen
  • Thielen, M. (1984): Sowjetische Psychologie und Marxismus. Frankfurt/Main

3.1.3 Krise der Psychologie - nomothetische und idiographische Richtung

In dieser Situation brachte sich nun L. S. Wygotskij in die Diskussion ein und begann zunächst alleine, dann in Zusammenarbeit mit der Troijka, die Situation der Psychologie, aber auch das Wesen jener Wissenschaft zu analysieren. Auch Lurija hatte sich während seines Studiums in Kasan schon mit dieser Problematik beschäftigt. Die Psychologie befand sich ihrer Meinung nach in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts in einem Stadium der Krise, die das Feld der Psychologie in zwei zusammenhangslose Unterdisziplinen aufgesplittet hatte, welche die Psychologie nicht als Einheit darstellten (LURIJA 1988). Vielmehr bildeten sich auf dieser Grundlage auf inflationäre Weise immer neue Richtungen, die jeweils andere Komponenten des Psychischen hervorhoben. Als Beispiel führt er den Fakt der Strukturiertheit an, auf dem Köhler die Gestaltpsychologie gründete.

Diese zwei großen Richtungen, aus denen die Strömungen sich herausbildeten, waren die an der Naturwissenschaft orientierte nomothetische, also „erklärende" Psychologie und die an der Geisteswissenschaft orientierte „beschreibende", die idiographische Psychologie, die von ihrem jeweiligen Ansatz her im Konflikt lagen (LURIJA 1988).

Der Punkt war, dass diese zwei psychologischen Richtungen, die Wygotskij als die grundlegenden der Weltwissenschaft bezeichnete, aufgrund ihrer gegensätzlichen Methoden nebeneinander herliefen und sich nicht kreuzten.

LURIJA (1993) beschreibt diesen Methodenstreit als Kluft zwischen physiologischen Erklärungen elementarer psychischer Prozesse und mentalistische Beschreibung komplexer Vorgänge. Beide hatten jedoch gemeinsam, dass sie immer nur innerhalb des Organismus nach Antworten, also nach Gesetzen des Psychischen, suchten, um möglichst genaue Angaben zu erhalten. Jeder war um eine exakte Wissenschaft bemüht.

Vor diesem Hintergrund sah der nomothetische Ansatz psychische Tätigkeiten als naturgemäße, unveränderliche Eigenschaft des Organismus (LURIJA 1986). Diese Erkenntnisse fanden ihren Niederschlag in der physiologischen Psychologe.

Der idiographische Ansatz sah die psychische Tätigkeit als Äußerung innerer Eigenschaften des Geistes, was sich v.a. in der idealistischen Psychologie wiederfindet.

Die Troijka würdigte zwar diese wesentlichen Entwicklungen der Psychologie zu einer modernen Wissenschaft (LURIJA 1988). Doch sie stellte auch fest, dass diese Hauptrichtungen der Psychologie, die naturwissenschaftlich bzw. geisteswissenschaftlich orientierte Linie, darüber hinaus keine Antwort geben konnten auf die eigentlich grundlegende Frage der Psychologie, was das Spezifische sei, das die menschliche Psyche ausmache.

THIELEN (1984) schreibt, dass für Wygotskij zudem z. B. in der ReflexologiePawlows und Bechterews der qualitative Unterschied zwischen dem Verhalten des Menschen und dem des Tieres nur undifferenziert dargestellt würde und deshalb das Spezifische nicht zum Vorschein trete. Dies wird an einem Zitat Wygotskijs auf die Frage, ob das Verhalten in Reflexe zerlegt werden kann, deutlich:

  • „Ja (...) man kann. Wenn sie aber das Verhalten als Kette bedingter Reflexe auslegen, verlieren sie die Spezifik der menschlichen Psyche: Schöpfertum - ein bedingter Reflex, Fertigkeit - ein bedingter Reflex, Interesse - ein bedingter Reflex, und dass sie mich hören, ist auch ein bedingter Reflex (...). Aber erklärt das ihr Interesse an der Psychologie oder ihr Interesse an der Geschichte oder ihr Interesse an der psychologischen Praxis? Selbst all ihre romantischen Gefühle kann man bestimmt nicht mit bestimmten Reflexen erklären. (...). Solch eine Fragestellung hebt die Frage nach der Spezifik der zu untersuchenden Erscheinungen auf. Das heißt, man kann das Verhalten untersuchen und in einzelne bedingte Reflexe zerlegen, aber es gewinnt dadurch nichts" (WYGOTSKIJ o. A.; zit. n. LURIJA 1988, 172)

Die Spezifik des Menschlichen lag für Wygotskij im Bewusstsein und im Vorstellungsvermögen der Menschen, die jedoch von der einen Richtung aus der Psychologie „herausgeworfen" bzw. mechanistisch erklärt, von der anderen lediglich auf mentalistische Weise beschrieben werden konnte. Bewusstsein und Verhalten wurden beiderseits nicht als Einheit gesehen.

Dies waren die wichtigsten Ergebnisse der Analyse. Eine Möglichkeit der Überwindung dieser Krise sah die Troijka darin, das Bewusstsein eben zum Gegenstand der Psychologie zu machen und auf diesem Weg das Subjekt in dialektischer Weise neu zu bestimmen (LURIJA 1988, 171). Somit war die Grundlage geschaffen, eine neue Psychologie auszuarbeiten, die sog. kulturhistorische Psychologie, die aus der Überwindung des Dualismus nomothetisch - idiographisch hervorgehen sollte. Die Psychologie sollte als Wissenschaft rekonstruiert werden. Dieser gewaltigen Aufgabe nahm sich die Troijka an.

Weiterführende Literatur:

  • Thielen, M. (1984): Sowjetische Psychologie und Marxismus. Frankfurt
  • Wygotskij, L. S. (1984) : Die Krise der Psychologie in ihrer historischen Bedeutung. In: Ausgewählte Schriften, Band 1. Köln. 57 - 277

3.1.4 Zusammenfassung des Exkurses

  • Die Situation der psychologischen Wissenschaft vornehmlich der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts stellt sich nicht nur aus der Sicht Lurijas und Wygotskijs folgendermaßen dar:
    o Zum einen lässt sich eine Vielfalt von Schulen und Richtungen festmachen, die versuchen, sich durch ihre Zielsetzungen, Methodik und Thematik voneinander abzugrenzen und dabei aber immer „nur" einen Teilaspekt der psychischen Prozesse hervorheben. (z. B. die Gestalt/ Struktur in der Gestaltpsychologie oder das Verhalten als Reiz-Reaktionsgleichung im frühen Behaviorismus usw.).
    o Dem frühen Behaviorismus geht es dabei v. a. um die Beobachtung und Analyse von Verhalten, d.h. die Untersuchung der Beziehung von Reiz und Verhalten. o Die Gestaltpsychologen hingegen als Vorläufer der Kognitionspsychologie betonen, dass eine Gestalt nur als Ganzheit verstanden werden kann. Hauptforschungsgegenstand ist dabei die Wahrnehmung, die nach dem allgemeingültigen Prinzip der guten Gestalt wirkt.
    o Zum anderen setzt man sich in Russland mit dem Problem auseinander, wie eine am Marxismus orientierte Psychologie auszusehen hat bzw. was die Psychologie am Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft bewirken kann. Vor allem namhafte russische Wissenschaftler wie Bechterew mit der Reflexologie, Pawlow mit den bedingten Reflexen und Kornilow mit der Reaktologie tragen nach außen hin zum Aufbau dieser Psychologie bei, die den Anspruch hat, möglichst objektiv zu sein und alles Subjektive auszugrenzen.
  • Grob lassen sich die Schulen und Strömungen in zwei erkenntnistheoretische Betrachtungsebenen einteilen, die sich polar gegenüberstehen:
  • die nomothetische Betrachtungsebene auf der einen, die idiographische auf der anderen Seite. Diese zwei Möglichkeiten, die Wirklichkeit zu verstehen, sind wiederum in den zwei grundsätzlichen Wissenschaftsrichtungen verkörpert, die dadurch ebenso als gegensätzlich zu betrachten sind: die Naturwissenschaft und die Geisteswissenschaft.
    o Die Naturwissenschaft allgemein verfolgt das sog. nomothetische Prinzip, das übersetzt soviel heißt wie „Gesetze aufstellend". Das heißt, wenn die Psychologie als Naturwissenschaft verstanden wird, impliziert dies das Ziel, die Psyche und deren Funktionsweise erklären zu wollen, also naturwissenschaftlich zu analysieren, um dann daraus allgemeine Gesetze abzuleiten. Als Paradebeispiel für eine nomothetische Betrachtungsebene der Psychologie kann der Behaviorismus aber auch die Gestaltpsychologie angesehen werden.
    o Die Geisteswissenschaft verfolgt hingegen das sog. idiographische Prinzip, das übersetzt soviel heißt wie „das Eigentümliche und Einmalige beschreibend". Das bedeutet wiederum, dass die geisteswissenschaftlich orientierte Psychologie das Ziel hat, psychische Tätigkeiten wie das Verhalten zu beschreiben und zu verstehen. W. Dilthey (1833 - 1911) gilt als Begründer dieser „verstehenden Psychologie".
  • Die sog. Troijka, Wygotskij, Lurija und Leontjew, konzipieren eine neue Psychologie an der Grenze der Natur- und Geisteswissenschaft, die den Dualismus zwischen nomothetischer und idiographischer Psychologie, also die mechanisch-materialistischen und idealistischen Ansätze der Psychologie, überwinden soll. Dies soll durch die Synthese dieser beiden Verfahren zu einem neuen Ansatz der Psychologie verwirklicht werden, mit dem sie die Künstlichkeit der Naturwissenschaft aus dem Labor vertreiben, dabei allerdings nicht den analytischen Scharfblick dieser Richtung verlieren wollen. Nach Meinung der Troijka liegt die Lösung dieses Problems darin, die Kluft zwischen den beiden „verfeindeten" wissenschaftlichen Lagern durch eine Synthese der experimentellen Verfahren der naturwissenschaftlichen Psychologie auf der einen und historisch beschreibender der geisteswissenschaftlichen Psychologie auf der anderen Seite zu überwinden. Diese Synthese sollte ein neuer Ansatz schaffen: die kulturhistorische Psychologie

 

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3.2 Kulturhistorische Psychologie

Zwar wird die Begründung der kulturhistorischen Psychologie und der daraus hervorgehenden kulturhistorischen Schule L. S. Wygotskij zugeschrieben, doch im Hinblick auf die weitere wissenschaftliche Entwicklung A. R. Lurijas erscheint es sinnvoll, im Folgenden die Grundaussagen dieses Ansatzes aufzuzeigen, da sie die Arbeit Lurijas entscheidend mitgeprägt haben.

Der Marxismus lieferte für dieses Ziel einer Neubestimmung des Subjektes wesentliche Gedanken, welche die Theorie der kulturhistorische Psychologie beeinflusste. Wygotskijs Herangehen an die Psychologie und den Marxismus unterschied sich von den bisherigen Versuchen russischer Psychologen, psychologischen Theorien auf marxistische Anschauungen zuzumünzen zu wollen. Er forderte, dass eine psychologische Wissenschaft nicht nur im Einklang mit dem Marxismus, sondern vielmehr von diesem hergeleitet und auf diesem aufgebaut werden müsse (COLE 1979b).

Die Vertreter des Marxismus gingen davon aus, dass im Grunde genommen nur eine Wissenschaft als Basis existiert, nämlich die Geschichte. Keine Wissenschaft sollte den Anspruch einer Wissenschaft besitzen ohne die historische Entwicklung der von ihr untersuchten Erscheinungen zu erklären (LURIJA 1988).

In diesem Sinn lässt sich auch das menschliche Denken nur dann verstehen, wenn man es in seiner Geschichte betrachtet. In der Konsequenz wird dadurch auch der Mensch in seiner Entwicklung qualitativ neu gesehen durch den Einbezug seiner sozialen und historischen Erfahrung. Diese Erfahrung im weitesten Sinne, also das Vergangene, bestimmt das dem Menschen eigene Bewusstsein (seiner Gegenwärtigkeit) sowie seine (in der Zukunft liegenden) Vorstellungen und Ideen.

 

3.2.1 Ziel der kulturhistorischen Psychologie

Ziel der Troijka um Wygotskij war es, auf der Grundlage des Marxismus eine neue psychologische Schule zu entwickeln, die im Einklang mit dem neuen, nach der Russischen Revolution errichteten sozialistischen Staat stehen sollte (MILLER 1993).

„Unser Ziel - wie alles in dieser Zeit übermäßig hoch gesteckt - war, einen neuen, umfassenden Ansatz zur Erklärung der psychologischen Prozesse des Menschen zu entwickeln" (LURIJA 1979, 40).

Nach den Ursprüngen der höheren Funktionen sollte nun aber nicht nur innerhalb des menschlichen Organismus gesucht werden, wie dies bei anderen entwicklungspsychologischen Ansätzen üblich war. Vielmehr wollte man die Grenzen des Organismus überwinden und somit das Individuum nicht mehr isoliert von seiner sozialen und physikalischen Umwelt betrachten (LURIJA 1993).

Entscheidend war, dass nicht mehr der Organismus selbst, sondern seine Beziehung zur historisch-sozialen Umwelt, mit Hilfe von kulturellen vermittelten Werkzeugen wie der Sprache, zum Gegenstand der Psychologie geworden war. Die kulturhistorische Schule ging davon aus, dass das zentrale Charakteristikum menschlichen Denkens und Handelns ihre kulturelle Vermittlung ist, sie sich also im Austausch mit ihrer Kultur entwickeln (COLE 1990).

Durch diese Sichtweise von der Einbettung des Individuums in einen entwicklungsmitbestimmenden Kontext wird der Ansatz Wygotskijs auch „kontextualistische Theorie" genannt und findet v.a. in der Entwicklungspsychologie Beachtung (MILLER 1993).

 

3.2.2 Instrumentell - Kulturell - Historisch

Die Theorie, aus der die Neubestimmung des Subjektes hervorgeht, definiert sich durch drei Adjektive, welche die Grundauffassung der kulturhistorischen Schule widerspiegeln, dass die höheren psychischen Prozesse historisch, kulturell und vermittelt, also instrumentell seien: In LURIJA (1993) und THIELEN (1984) werden sie näher erläutert.

 

Instrumentell

Die Charakterisierung „instrumentell" drückt die Abgrenzung von Reiz-Reaktions-Schemata zur Erklärung komplexer psychischer Funktionen aus. Das heißt, der Mensch reagiert nicht nur auf Reize, er kann sich auch neue Reize selbst schaffen. Sowohl psychologische als auch technische Werkzeuge beeinflussen dabei das Denken, das mit Hilfe der Untersuchung dieser Werkzeuge und Zeichen erforscht werden soll, die den Menschen auch mit seiner Umwelt verbindet und mit Hilfe derer er sich in ihr zurechtfindet, sie beherrscht.

Mit psychologischen Werkzeugen sind z. B. die jeweilige Sprache, Zahlensysteme oder konventionelle Zeichen und Volksbräuche (z.B. der „Knoten im Taschentuch" mit dem Reiz „Erinnerung") gemeint, die Denken und Verhalten steuern. Unter technischen kann man Werkzeuge im Sinne von Arbeitsmitteln wie z.B. die Axt oder Schreibwerkzeuge und Computer verstehen (MILLER 1993). Die politischen und ökonomischen Vorstellungen Marx und Engels dienen dabei als Grundlage für die Ansicht, dass sich durch seinen Werkzeuggebrauch der Mensch und dadurch auch seine Natur verändert.

Das wichtigste Werkzeug, mit dem der Mensch seine Umwelt und sein Verhalten und Denken, steuert, ist die Sprache. Mit diesem bedeutendsten Instrument hat sich die Troijka intensiv beschäftigt. Auch eines der Hauptwerke Wygotskijs beschäftigt sich mit dem Denken und Sprechen des Menschen bzw. dem Einfluss der Sprache auf das Denken. Wygotskij vertritt die These, dass die Sprache das Denken in der Entwicklung bestimmt und nimmt so eine gegensätzliche Position zu dem bedeutenden Entwicklungspsychologen Jean Piaget (1896 - 1980) ein, der dem Sprechen keinen wesentlichen Einfluss auf das kindliche Denken zuspricht (LURIJA 1993).

 

Kulturell

Der Ausdruck „kulturell" steht dazu im engen Zusammenhang und erweitert die Sicht vom Einzelnen auf die Gesellschaft, in welcher der Mensch lebt, und deren Bedeutung. In Auseinandersetzung mit seiner Umwelt wächst der Einzelne in seine Kultur hinein und steht von Anfang an in Kommunikation mit ihr. So müssen die Anforderungen, die eine gegebene Gesellschaft an den Einzelnen, insbesondere auch an das Kind in seiner Entwicklung stellt, in die Erklärung höherer psychischer Tätigkeiten miteinbezogen werden, da sie diese mitbedingen. Der Umwelt eines Kindes (Eltern, Peers) kommt dabei die Aufgabe zu, ihm zu helfen, die psychologischen (Sprache) und technischen (Schreibwerkzeuge) Mittel, die in seiner Kultur verwendet werden, einzusetzen (MILLER 1993).

Unter diese Anforderungen, mit Hilfe derer sich der Einzelne in der jeweiligen Kultur zurechtfinden kann, würde beispielsweise in unserem Kulturkreis das Erlernen der sog. Kulturtechniken wie Lesen, Rechnen und Schreiben zählen, schon jetzt zählt auch der Umgang mit dem Computer zu einer fast unentbehrlichen Fertigkeit, die von unserer Kultur verlangt wird. Im Hinblick auf den Einfluss der Werkzeuge auf das Denken, lässt sich die weiterführende Überlegung anstellen, ob Kinder, die in der Computergeneration aufwachsen sich in ihrem Denken von dem früherer Generationen unterscheiden.

 

Historisch

Wiederum damit verbunden ist der Zusatz „historisch". Dieser drückt die zeitliche bzw. geschichtliche Komponente der menschlichen Psyche aus. Die Instrumente oder Zeichen, mit denen der Mensch seine Umwelt und sein Verhalten steuert und mit denen er kommuniziert, haben sich im Laufe der Geschichte des Menschen bis hin zur (vorübergehenden) Vervollkommnung entwickelt. Das heißt, dass sowohl die menschlichen Tätigkeiten und ihre vermittelnde Bedeutung hinsichtlich der Umwelt als auch die verschiedenen zugrundeliegenden höheren psychischen Prozesse historisch entwickelt sind. So hat sich beispielsweise die Fähigkeit, Schreiben zu können erst relativ spät im Laufe der Entwicklungsgeschichte des Menschen herausgebildet, dadurch aber seine Handlungsmöglichkeiten erweitert.

Dem entsprechen auch spätere neuropsychologische Überlegungen Lurijas im Hinblick auf die Rehabilitation der Schreibfähigkeit (COLE 1990). Das Schreiben kann dabei als historisch junge Form des menschlichen Verhaltens keinem bestimmten Ort im Gehirn zugeschrieben werden, sondern muss vielmehr hinsichtlich sog. „funktioneller Organe" (siehe Teil II), die diese Fähigkeit ermöglichen, analysiert werden.

Allgemein lässt sich sagen, dass den Menschen im Laufe seiner phylogenetischen Entwicklung in qualitativer Hinsicht eine immer komplexere Fähigkeit zur Interaktion mit seiner Umwelt auszeichnet. Diese Erkenntnis kann in gewisser Weise auch auf die individuelle Entwicklung des Menschen (die Ontogenese) bezogen werden.

 

3.2.3 Das Menschenbild in der kulturhistorischen Psychologie

Die kulturhistorische Psychologie liefert somit einen ersten Ansatz, der die Gesetze des Psychischen bzw. die höheren psychischen Prozesse nicht mehr primär aus individualpsychologischer Sicht zu erklären versucht, sondern vielmehr auch sozialhistorische Phänomene (z. B. die Verwendung von Zeichen und deren Entwicklung in der Zeit) zum Ausgangspunkt für komplizierte Formen psychischer Tätigkeiten nimmt.

Der soziale Ursprung der höheren psychischen Prozesse wird somit nicht mehr länger ignoriert (LURIJA 1986). Vielmehr werden die kulturellen und gesellschaftlichen Determinanten menschlicher Tätigkeit mit einbezogen.

Somit wird der Mensch nicht mehr als passives auf Reize der Umwelt reagierendes Wesen gesehen, sondern Mensch und Umwelt werden im Sinne einer materialistischen Dialektik betrachtet, die besagt, dass der Mensch einerseits von Umwelt geprägt ist, andererseits aber auch seine Umwelt als tätiges Wesen beeinflusst und sich dadurch wiederum neue Bedingungen für seine Existenz schafft (THIELEN, 1984). Mensch und Umwelt treten nicht nur in Interaktion miteinander, sondern bilden im Sinne der Kontexttheoretiker eine Prozesseinheit.

Im Gegensatz zu den Reiz-Reaktionstheorien von Pawlow, Bechterew und den Behavioristen wird dem Menschen folglich eine aktive Fähigkeit zugesprochen, die ihr höchstes Niveau im dem Menschen eigenen Bewusstsein erreicht.

Das heißt auch, dass das Bewusstsein des Menschen die Bewusstmachung seiner Realität mit einschließt. Dies geschieht wiederum durch Sprache oder bildliche und andere Repräsentationen und Medien, die sich aus der kollektiven Erfahrung der Gesellschaft bzw. der vorangegangenen Generationen herausgebildet haben (PICKENHAIN 1994).

Das Anliegen der kulturhistorischen Psychologie ist es also, das Spezifische der menschlichen Psyche, die höheren psychischen Funktionen, die den Menschen qualitativ von den Tieren unterscheidet, hervorzuheben. Hierbei ist der soziale Faktor ausschlaggebend, der in Form von sozialen Erfahrungen die Entwicklung des Psychischen beeinflusst. Das Soziale steht dabei mit dem Biologischen nicht in bloßer Wechselwirkung, sondern schafft qualitativ neue Formen der Bewusstseinstätigkeit. Mit sozialer Erfahrung ist v.a. die Verwendung von Werkzeugen und Zeichen in Übereinkunft mit der sozialen Umwelt gemeint, bei denen der Sprache eine tragende Rolle zukommt. Wichtig ist, dass sie als Produkt der Beziehungen zwischen dem menschlichen Organismus und seiner sozialen Umwelt entsteht und deshalb als Ergebnis der menschlichen Sozialgeschichte interpretiert wird (LURIJA 1986).

 

3.3 Zusammenfassung

  • Lurija begegnet L. S. Wygotskij 1924 bei einem Kongress, auf dem Letzterer eine bahnbrechende Rede hält. Daraufhin wird Wygotskij nach Moskau berufen und kurze Zeit später arbeiten sie zusammen mit Leontjew in Moskau am Psychologischen Institut. Es entwickelt sich eine intensive Arbeitsgemeinschaft, die als Troijka ihren Namen macht. Inhaltlich arbeitet die Troijka v. a. an der Entwicklung einer neuen Psychologie, die einen Ausweg aus der diagnostizierten Krise dieser Wissenschaft schaffen soll.
  • Die kulturhistorische Psychologie liefert einen neuartigen Ansatz, der das Psychische und seine Gesetzmäßigkeiten nicht mehr nur individualpsychologisch, sondern auch aus sozialhistorischer Sicht erklärt. Der Organismus ist dabei in seiner Beziehung zur sozial-historischen Umwelt Gegenstand der Psychologie. Eckpfeiler der neuen Schule der Psychologie ist dabei die kulturelle Vermittlung. Grundlage hierfür bildet die Forderung des Marxismus, eine Wissenschaft erst dann als solche zu bezeichnen, wenn sie ihre zu untersuchenden Gegenstände von ihrer historischen Entstehung und ihrer Entwicklung her erklären kann.
  • Drei zentrale Begriffe prägen den Ansatz, durch die das Subjekt neu bestimmt wird: Instrumentell, Kulturell und Historisch.
  • „Instrumentell" drückt die Betonung auf Mittel (Instrumente) aus, die sich der Mensch durch sein Tätigsein zunutze macht, um mit seiner Umwelt zu kommunizieren und sie dadurch zu begreifen. Dadurch nehmen sie Einfluss auf die Entwicklung psychischer Prozesse. Eine zentrale Rolle nimmt dabei die Sprache ein.
  • „Kulturell" steht für die Sichtweise des Menschen, der in der Auseinandersetzung mit seiner jeweiligen kulturellen Umwelt in seine Kultur hineinwächst.
  • „Historisch" deutet auf die zeitliche Entwicklung der Instrumente hin, mit denen der Mensch kommuniziert.
  • Daraus lässt sich ein Menschenbild ableiten, das den Menschen als tätiges Wesen ansieht, das sich aktiv mit seiner sozialen und materialen Welt auseinandersetzt. Höchstes Niveau dieser Aktivität zeigt sich im eigenen Bewusstsein, das sich aus der Wechselwirkung zwischen Sozialem und Biologischem definiert.

Weiterführende Literatur:

  • Wygotskij, L. S. (1985): Die Krise der Psychologie in ihrer historischen Bedeutung. In: Ausgewählte Schriften, Bd. 1. Köln. 57 - 277
  • Wygotskij, L. S. (1992): Geschichte der höheren psychischen Funktionen. Münster/ Hamburg

Auszug aus: Wagner, C. (2001). Alexandr R. Lurija: Leben und Werk. Unveröffentlichte Examensarbeit, Universität Würzburg.
Mit freundlicher Genehmigung von PD Dr. phil. Erwin Breitenbach, Lehrstuhl für Sonderpädagogik I, Philosophische Fakultät III

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